Büro-Knigge 2.0 – So verändert Corona den „guten Ton“

Von Katharina Schohl, veröffentlicht am 24. August 2021

Nach Monaten im Homeoffice kehren aktuell immer mehr Berufstätige zurück in die Büros. Dank ausreichender Schutzmaßnahmen und einer stetig steigenden Impfquote wagen wir ganz allmählich einen Schritt zurück in Richtung Normalität. Endlich sehen wir die Kollegen wieder. Face-to-Face statt digital. Wie aufregend! Doch machen wir uns nichts vor – Corona hat etwas verändert. Im Miteinander mit den Kollegen sowie im Kontakt zu unseren Kunden. Stellt sich eine entscheidende Frage: Wie bekommen wir den Spagat zwischen erforderlicher Distanz und gewünschter Nähe hin? Diesen und weiteren Fragen gehen wir in diesem Artikel auf den Grund.

Frau Steinkamp, Sie sind Vorstandsmitglied der Deutschen Knigge-Gesellschaft und zertifizierte Trainerin für Business-Etikette. Wie erleben Sie den coronabedingten Berufsalltag? Was hat sich bei Ihnen verändert?   

Auch mein Berufsalltag hat sich extrem digitalisiert. Im April 2020 dachte – oder hoffte – ich noch, dass ich vielleicht ein oder zwei Monate keine Präsenzseminare würde geben können. Eine Umstellung auf Remote-Veranstaltungen schien mir umständlich und auch nicht lohnenswert. Außerdem war ich davon überzeugt, dass mein Thema, dass sich auf den Umgang mit Menschen bezieht, per Kamera nicht transportierbar ist. Heute, 15 Monate später, weiß ich es besser: Ich habe meine Coachings und Seminare umgeschrieben, Ablauf und Inhalte an die digitalen Anforderungen angepasst. Ein paar Präsenzveranstaltungen habe ich bereits wieder geben können. Natürlich mit Abstand und Maske, aber live. Das fühlte sich für mich an wie für viele andere der erste Tag im Büro nach einer langen Homeoffice-Phase.

Sicher ein gutes Gefühl, wenn auch nach der langen Zeit etwas ungewohnt.
Welche Rückmeldungen erhalten sie von Ihren Kund*innen? Welchen neuen Fragenstellungen sehen Sie sich aktuell konfrontiert?

Meine Kund*innen und Klient*innen sind dankbar, dass Seminare überhaupt möglich sind. Remote können wir über große Entfernungen und zeitlich flexibler agieren, was in der heutigen, straff getakteten Zeit sehr hilfreich ist. Gleichzeitig nehme ich wahr, wie sehr sich die meisten Menschen wieder auf Begegnungen freuen.

Menschen face to face anzulächeln ist eben etwas anderes, als in die Kamera zu starren, während in Jogginghose auf dem Sofa vor dem Laptop gelümmelt wird.

Natürlich ist das nun etwas überspitzt ausgedrückt, aber das ist zum Beispiel ein Thema, das derzeit in Sachen Benimm im Business viel nachgefragt wird: Welche Unterschiede gibt es zwischen Präsenz und remote in Sachen Kleidung? Videocall-Etikette nimmt gerade die Hälfte meiner Seminare ein und hat einen festen Platz in jedem Ganztags-Business-Etikette-Seminar. Schließlich spare ich die Zeit, die ich sonst für den korrekten Handschlag gebraucht habe – und das ist die nächste Frage, die gerade den meisten Menschen unter den Nägeln brennt, und zwar mit zwei unterschiedlichen Erwartungshaltungen: „Hören wir nun endlich für immer auf, uns die Hände zu schütteln?“ oder „Frau Steinkamp, hoffen Sie auch, dass wir uns bald wieder die Hände schütteln?“

Und? Wie antworten Sie darauf? Schließlich gehörte es vor anderthalb Jahren noch zum „guten Ton“, einem Gast oder Kunden zur Begrüßung die Hand zu schütteln – heute ist es fast verpönt.

Ich bin davon überzeugt, dass wir uns wieder die Hände schütteln. Kontrovers war dieses Thema schon immer ein wenig, denn es gibt seit jeher Fans des Handshakes und diejenigen, die andere Menschen nicht so gern berühren. Fakt ist aber: das Händeschütteln ist eine jahrhundertealte Geste, die zum Ritual der Begrüßung dazu gehört. Diese Geste wird sicher nicht einfach verschwinden. Ich beobachte auch heute - mitten in der Pandemie - häufig, wie jemand zum Handshake ansetzt, die Hand dann zurückzieht und sagt „Ach, nein. Das machen wir ja gerade nicht“. Und wenn wir ganz ehrlich sind, gibt es keine wirklich adäquate „Ersatz-Geste“, die dem Händeschütteln das Wasser reichen könnte.

Ghetto-Faust, Ellenbogen oder Hacke-an-Hacke schaut besonders im Business eher unbeholfen aus.

Was sich hoffentlich verändern wird bzw. bereits verändert hat ist das Bewusstsein für Hygiene. Ich finde es interessant – oder eher erschreckend – dass das Thema der regelmäßig und gründlich gewaschenen Hände erst mit einem weltweiten Virus propagiert wird. Dass die Hand, die ich meinem Gegenüber zur Begrüßung reiche, sauber ist, sollte auch vor Covid-19 bereits selbstverständlich gewesen sein. Genauso verhält es sich übrigens mit dem Abstand halten und Distanzzonen.

Befürchten Sie aufgrund des veränderten Verhaltens während der Pandemie denn möglicherweise negative Auswirkungen auf das berufliche Miteinander?

Bezogen auf Begrüßung und Handschlag gibt es 2 Punkte, die uns bewusst sein müssen:
1. Begrüßungssituationen, in denen der Handshake fehlt, laufen einfach ein bisschen weniger rund ab. Der Ablauf „Ansehen - Lächeln - Handshake - Begrüßen / Vorstellen - Loslassen - Smalltalk“ ist gestört. In einer Gruppe mit mehr als zwei Personen ist es eine Herausforderung, sich angemessen zu begrüßen, ohne dass die Blicke unsicher zwischen den Personen hin und her wechseln, weil niemand weiß, wer hier gerade wen begrüßt.

2. Fehlt uns ein ganz wichtiger Sinn: Das Fühlen. Über die Haptik nehmen wir Informationen wahr und checken unser Gegenüber ab. Fragen wie „Glaube ich dir?“, „Mag ich Dich?“, „Traue ich Dir etwas zu?“ usw. beantworten wir uns unbewusst in den ersten Sekunden einer Begegnung und das auch darüber, wie sich die Hand des anderen anfühlt. Diese Informationen nutzt mein Gegenüber von mir natürlich genauso. Mit dem fehlenden Handschlag fehlt mir also auch die Möglichkeit, über das Händeschütteln ein gewisses Image zu vermitteln.

Nicht unbedingt negativ, aber sicher anders sein wird, dass mehr Menschen weiterhin auf das Händeschütteln verzichten möchten und dass wir eine größere Portion Empathie und eine gute Mischung aus Aufmerksamkeit und Verständnis brauchen, um den individuellen Erwartungen unserer Gegenüber gerecht zu werden.

Gleiches gilt auch fürs Abstandhalten, wobei ich hier ganz klar sagen muss: Auch den gibt es nicht erst seit Corona. Seit vielen Jahren erzähle ich in meinen Seminaren, dass wir in der intimen Zone (bis max. 50 cm) eines anderen nichts zu suchen haben, es sei denn, wir reichen uns gerade die Hand oder sitzen nebeneinander. In der Pandemie haben nun viele dieses Abstandhalten ausschließlich zum Selbstzweck zelebriert „Ich möchte mich nicht anstecken“. Es geht aber um viel mehr, als nur um mich selbst:

Es gilt bei allen Begegnungen mit Menschen, auch dem anderen seinen Raum zu lassen.

Wir alle wissen gerade jetzt sehr zu schätzen, dass uns an der Supermarktkasse niemand mehr in den Nacken atmet.

Ich wünsche mir sehr, dass sich das Bewusstsein für einen respektvollen Abstand zueinander festigt und wir nicht nur unsere eigene intime Distanzzone schützen möchten, sondern Gleiches dem anderen zugestehen.

Eine Dritte Veränderung ist wohl das Wertschätzen von Begegnungen fernab von Videoanrufen und das Sich-live-Sehen an sich. Wir sehnen uns danach, uns zu sehen, zu riechen, zu spüren – uns einfach mit allen Sinnen wahrzunehmen und quasi zu erleben. Es könnte eine negative Folge von Homeoffice und Co. sein, dass wir uns an angemessene Kleidung und auch angemessene Tischsitten wieder gewöhnen müssen. Daran, dass die Jogginghose im Chefbüro nicht geht und dass man Pizza beim Business-Lunch nicht im Schneidersitz mit den Fingern isst, erinnern wir uns gut. Gegebenenfalls sind aber doch Details unseres mühsam erarbeiteten Wissens rund um Dresscode- und Verhaltensregeln in eine der unteren Schubladen im Gehirn gerutscht, so dass wir unseren gewohnt souveränen Auftritt ein paar Mal üben müssen.

Aber einmal Erlerntes ist ganz schnell wieder da, das ist wie Fahrradfahren.

Mir persönlich fällt nur eine einzige Sache ein, die vielleicht negativ übrig bleiben wird aus der Pandemie und der Zeit der Mundnasenmaske: Dass Menschen beim Gähnen oder Husten vergessen, die Hand vor den Mund zu halten.  

Eine gewisse Nähe gehört unter vielen Kollegen dazu – sei es eine Umarmung zur Begrüßung oder der Plausch in der engen Büroküche. All das sollten wir aktuell unterlassen. Wie können wir es schaffen, uns coronakonform zu verhalten und die Distanz dennoch zu überbrücken?

Das Zauberwort heißt Körpersprache. Wie gesagt fehlt uns mit dem Berühren, also der Haptik, ein wichtiger Sinn, über den wir sonst Distanzen überbrückt haben. Was uns nun bleibt ist die Formel KLARA: eine deutlich zugewandte

  • Körperhaltung,
  • unser Lächeln,
  • uneingeschränkte Aufmerksamkeit,
  • Reden und gleichzeitig weiterhin Abstand halten,

denn dem anderen seinen Raum zu lassen, gehörte schon immer zum guten Ton. Damit diese fünf Instrumente wirken können, ist es nötig, dass wir uns für unser Gegenüber etwas mehr Zeit nehmen als „früher“ und ihm ganz bewusst all unsere Aufmerksamkeit gönnen, ohne uns ablenken zu lassen.     

Über die aktuell herrschenden „Benimmregeln“ gibt es unterschiedliche Ansichten. Manche nehmen sie ernst, andere nicht. Was raten Sie zu tun, wenn jemand gegen die Regeln innerhalb des Betriebes verstößt?

Zunächst einmal würde ich das gesamte Thema nicht unter die Überschrift „Benimmregeln“ stellen. Es geht um viel mehr, als um ein „Erstens, Zweitens, Drittens, …“, wie man sich verhalten sollte. Knigge ist kein Regelwerk, sondern eine Geisteshaltung. Dass wir gut mit unseren Mitmenschen umgehen, sollte selbstverständlich sein und dazu gehören bereits Gesten, die aus der Erziehung oder der späteren sozialen Entwicklung resultieren, wie z.B. sich zu grüßen, sich gegenseitig die Tür aufzuhalten, Hilfe anzubieten, sich gegenseitig zuzuhören und ausreden zu lassen, pünktlich zu sein und vieles mehr. Wer bereits bei dieser Basis des guten Benehmens nicht mitspielen möchte, wird zwar nicht gleich gekündigt, aber vielleicht sozial bzw. kollegial geächtet.

Und im März 2020 wurde alles noch etwas strenger: seitdem fallen uns Gesten und Taten auf, die früher selbstverständlich, seit der Pandemie aber nahezu unerträglich geworden sind und wir strafen Menschen mit Kopfschütteln und Augendrehen: Das Anlecken der Finger, um in einer Zeitschrift zu blättern, Desinfektionsmittelspender ignorieren, in die Hand niesen, im Restaurant an einen nicht frisch desinfizierten Tisch platziert werden oder jemandem zu nahe kommen – das alles können wir mittlerweile gar nicht mehr gut haben.

Anstatt das alles grummelig zu ertragen, sich aber unwohl zu fühlen, dürfen wir das alles ansprechen.

Es ist in Ordnung, zu sagen, womit man sich nicht wohlfühlt.

Wichtigste Regel dabei ist: die Tonart muss höflich und respektvoll sein und wenn es passt, nennt man auch den Grund für die Kritik am Verhalten des anderen. Zum Beispiel, dass man derzeit aus Gründen einer möglichen Ansteckung einfach lieber Abstand hält. Das wirkt aufrichtiger, als genervt einen Schritt vom Gegenüber wegzurücken. Sowieso und überhaut ist eine offene, höfliche Kommunikation stets erfolgsversprechender als anonymes Augenrollen.

Grundlage eines guten Miteinanders sind klare und offen kommunizierte Regeln. Welche Rolle spielt der Arbeitgeber dabei?

Eindeutig die wichtigste Rolle: Oberste Priorität hat in einem Unternehmen also erstmal die klare Kommunikation, welche Verhaltensweisen im Allgemeinen der eigenen Unternehmenskultur entsprechen und welche Verhaltensweisen von den Mitarbeitenden gewünscht oder sogar erwartet wird. Es geht hier um viel mehr als um persönliche Vorlieben, denn Mitarbeitende sind Markenbotschafter – intern und extern. Bestenfalls „leben“ sie das Leitbild in ihrer Wirkung, in ihrem Handeln und auch in ihrem Aussehen. Es sollte dem Arbeitgeber also ein großes Anliegen sein, die Unternehmenskultur für jeden Mitarbeitenden verständlich, greifbar und auch umsetzbar zu machen.

Bis hierher sprechen wir von der grundlegenden Basis des sozialen Miteinanders. Kommt es zu einer besonderen Situation wie jetzt in der Pandemie, so ist Transparenz und die klare Formulierung von zusätzlichen Regeln unabdingbar.

Der Arbeitgeber muss ganz klar sagen, was er erwartet und sicherstellen, dass jeder Mitarbeitende darüber informiert ist – am besten schriftlich.

Schließlich trägt er die Verantwortung für einen reibungslosen Ablauf und ist neben seinem Team auch gesetzlich zu Maßnahmen verpflichtet. Neue Regeln sind stets ungewohnt und wir wissen alle, wie häufig wir zu Beginn die Maske vergaßen. Darum ist es nötig, neue Regeln häufig zu wiederholen. Damit zeigt ein Arbeitgeber keineswegs mangelndes Vertrauen in das Verständnis seines Teams, sondern vielmehr kommt er seiner Fürsorgepflicht nach.

Für viele ist der Tag der Rückkehr bereits gekommen, andere fiebern ihm noch entgegen. Welche Tipps möchten Sie mit auf den Weg geben? Wie verhalten wir uns in diesen turbulenten Zeiten im Büro richtig?

Seien Sie achtsam und schenken Sie Ihren Mitmenschen Aufmerksamkeit. Gerade in Zeiten wie diesen, in denen vieles ungewiss ist und wir oft nicht so recht wissen, was nun „richtig oder falsch“ ist, wissen wir Menschen zu schätzen, die uns mit Verständnis gegenüberstehen. Gönnen Sie sich für Begegnungen mit Menschen ein wenig mehr Zeit, setzen Sie Blick und Lächeln ganz bewusst ein, weil physische Nähe gerade nicht möglich ist. Und wenn Sie sich mal nicht so sicher sind, was gerade angemessen ist, dann fragen Sie nach – nichts bremst ein erfolgreiches Miteinander so sehr, wie Unsicherheiten durch falsche Zurückhaltung.

Und wieder erinnere ich mich an einen Satz aus meiner Vergangenheit: „Und benimm dich!“ Wie oft sind uns diese Worte in unserer Kindheit zu Ohren gekommen, als wir etwa auf dem Weg zur Schule oder zu Besuch bei Freunden waren. Die Gesellschaft hat uns und das, was wir als „gutes Benehmen“ werten, bereits in jungen Jahren geprägt. Jetzt ist die Zeit zum Umdenken gekommen. Corona hat unsere Sichtweise dessen, was zum „guten Ton“ gehört, verändert. So viel steht fest. Doch in jeder Veränderung steckt immer auch die Chance auf etwas tolles und großartiges Neues.

Trainerprofil Birte Steinkamp

  • Vorstandsmitglied der Deutschen-Knigge-Gesellschaft
  • Zertifizierte Trainerin für Business-Etikette (IHK)
  • Gepr. Systemische Business-Coach (INeKO – Institut an der Universität zu Köln)
  • Lehraufträge an Universitäten und Hochschulen
  • Dozentin an Wirtschaftsakademien
  • Vorträge und Seminare seit 2012
  • Podcasterin des größten deutschen Knigge-Podcasts: Knigge mit Herz & Köpfchen
  • Seit 2015: Seminare und Coaching Business-Etikette
  • Seit 2015: Ausbildung Trainerin für Business-Etikette (KniggeAkademie, Essen)
  • Seit 2012: Referententätigkeit „Der Mensch als Marke“

Ihre Expertise als IHK-zertifizierte Trainerin für Business-Etikette und Vorstandsmitglied der Deutschen-Knigge-Gesellschaft vermittelt Birte Steinkamp in Seminaren, Vorträgen und Coachings besonders lebendig und praxisnah. Dass Respekt und Höflichkeit im Miteinander unabdingbar sind, ist jedem einigermaßen gut erzogenen Menschen bewusst. Doch welche Regeln gilt es zusätzlich zu beachten, um auf dem beruflichen Parkett zu punkten? Sie räumt mit dem antiquierten Image von Knigge auf und erklärt, wie der Balanceakt zwischen Authentizität und Rücksichtnahme zum souveränen Auftritt im Business wird.

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Katharina Schohl

hat viele Jahre bei Radio Herford gearbeitet und ist ausgebildete Redakteurin. Seit Mai 2021 ist sie bei ams - Radio und MediaSolutions als Online-Redakteurin tätig und betreut das Projekt „Marketing in Westfalen“. Sie beschäftigt sich mit vielen Themen im und rund ums Web.